Samstag, 3. September 2011

Ausgrabungen Teil 3


Der letzte Tag.
Teil drei der Trilogie.
Dr. Erwin Breuer verließ seine Dienstelle im Institut.
Es ist geschafft. Der Trubel ist vorbei. Für ihn beginnt ab 24 Uhr ein neuer Lebensabschritt.
Die Dienstzeit als leitender Archäologe endet heute Nacht.
Vier Stunden dauerte die Verabschiedungsfeier.
Vorbei, ist vorbei.
 Mit ruhigen Schritten ging er durch die schmale Gasse hin zu seinem Weinlokal. Der heutige Mittwoch brachte die ersten Herbstwinde. Ihm fröstelte.
 Nach wenigen Minuten erreichte er die Eingangstür, trat in den kleinen Schankraum und steuerte zielgerichtet zum Stammtisch.
 Niemand saß an einen der schweren Eichentische.
 Kein Spielautomat, Radio, Fernseher, Jukebox, keine Cafehausmöbel gibt es hier.  Die Tische und wuchtige, aber bequeme Stühle bilden das spärliche Mobiliar.
Bilder an den Wänden von trinkenden und lachenden Menschen, Landschaften des Mittelrheins und lustige und anzügliche Trinksprüche ergänzen die Einrichtung.
 Jupp der Wirt, kam aus der Küche und ging direkt auf Dr. Breuer zu. Beide gaben sich schweigend die Hand.
Na, geschafft, fragte Jupp seinen Stammgast?
 Es ist vollbracht, antwortete Berger.
Jupp trug ein Tablett mit zwei Weingläsern, dazu einen kleinen blauen Steinkrug!
Jupps Heimat ist der Rheingau.
 Die Liebe schwemmte ihn in seiner Jungendzeit in den Norden.
 Sein richtiger Vorname ist Heinrich. Hier nennen sie ihn seit 40 Jahren Jupp. Warum Jupp, das weiß nicht einmal er selbst. Es ist einfach so.
Er stellte die Gläser und den Steinkrug auf den Tisch.
Zur Eröffnung des Abends, kredenze ich eine besonderen Tropfen.
Einen Eiswein aus dem Jahre 1949. Ein Raunenthaler  Rothenberg vom Weingut Rusler.
Mit diesen Worten setze er sich und fragte nach einer Zeit des ersten Probierens, des Genießens und eines wohlwollenden Lobes seines Gastes und Freundes, ob dieser noch einen besonderen Wunsch hege.
Breuer antwortete ihm. Nein, ich bin wunschlos zufrieden. Dir will ich jetzt eine sonderbare Geschichte erzählen.
Jupp schenkte nach, hob sein Glas. Auf die Zukunft, auf dein neues Leben als Ruheständler. Prost. Sie tranken genüsslich und Dr. Berger begann zu erzählen.
 Es war im Sommer 2007 bei meiner Reise in die Ägäis. Dort traf ich eine Berufskollegin Frau Prof. Carlson vom Institut für Nautische Archäologie in Texas.
Sie berichtete von den  vielen versunkenen Schiffen, den seltsamen Steinquadern und ihrer Suche nach Atlantis.
Atlantis, das sagenumwobene Inselreich der Antike..
Gab es Atlantis wirklich?
 Was wusste Platon?
Lag Atlantis tatsächlich westlich der Säulen von Herakles?
War alles nur Phantasie, was war oder ist Wirklichkeit?
 Hat nicht jeder Gymnasiast davon geträumt, später einmal als berühmter Archäologe Atlantis zu entdecken?
 Warum sollte ich, selbst im besten Mannesalter nicht davon träumen dürfen?
 Das waren einige der Gedanken, die mir damals durch den Kopf gingen.
Ich lag  am Strand von Kizilburun in der Nähe von Ismir und starrte in den blauen Himmel.
Es war mein dritter Urlaubstag. Ich konnte mich nicht von den Fesseln der Archäologie freimachen. Selbst jetzt in meiner Freizeit. Meine Gedanken drehten sich um Atlantis.
 Eine angenehme Schwerelosigkeit, die ich so nie erlebte, nahm Besitz von mir, ließ mich schläfrig werden und führte mich in eine Wachtraumwelt.
 Mein Körper begann zu schweben. Über Land und Wasser flog ich durch die Lüfte und landete sanft auf einem Eiland. Meine seltsame Reise führte mich direkt in eine fremde Stadt auf einer wunderschönen Insel. Ich sah viele umhereilende Menschen. Dies hier musste das Reich von  Atlantis sein.
Es gab keinen Zweifel. Hier erfüllten sich meine Vorstellungen von Atlantis. Die Beschreibung des Plato stimmt mit der Wirklichkeit überein. Ein wunderbares Glücksgefühl durchströmte meinen Körper. Dreitausend Jahre nach den Reiseberichten aus alter Vorzeit erlebe ich hier die Wirklichkeit.
Meine Schritte führten mich über den dortigen Marktplatz. Ich beobachtet das rege Treiben der Einwohner. Überall an den Häuserwänden standen blühende Wildrosenstöcke. Auf den offenen Grünflächen erblickte ich vielerlei Blumen. Niemals vorher sah ich eine solche Pracht.
Ein betörender Duft, einer Mischung aus See-und Rosenduft, den Gewürzen des Marktes schwängerte die milde, warme Luft in der Stadt.
 Mein Staunen galt den vielen Schiffen im Hafen. Die grünen Hügel mit den gepflegten Gärten. Den Weinbergen und den Wasserspielen. Wasserkanäle brachten das klare, frische Nass der Berge in die gepflegten Wohnstätten der Stadt.
 War das hier der Garten Eden? Der Himmel auf Erden?
Um mich herrschte ein reges Markttreiben. Von meiner Anwesenheit nahmen alle diese vielen, festlich gekleideten Menschen keinerlei Notiz. Ihre strahlendweißen, weiten Umhänge leuchteten in der Nachmittagssonne.
 Ich war hier und überall. Mein Körper erschien mir wie eine schwerelose, luftige Masse, die mich an jeden Ort der Insel bringen konnte.
Das ist wie im Raumschiff,  das um die Erde fliegen. Eben noch unter dir Afrika, um im nächsten Moment die Wüste Gobi zu überqueren.
 In diesem Paradies, bestimmte ich den Weg, das Ziel.
Hier ist die Zeit aufgehoben, geteilt und doch zusammen. Es gibt keine Vergangenheit, keine Zukunft, nur Gegenwart.
 Meine Neugier trieb mich an die Kaimauer der Stadt.
 Ich musste einen Seemann sprechen.
Es galt den Seeweg zu dieser Insel zu erfragen.
Hier in diesen Hafen hoffte ich eine Antwort finden.
 Diese Erkenntnis würde das Rätsel Atlantis für immer lösen. Ich müsste es einfach wissen!
Seltsam, den ersten Mann, den ich ansprach, er verstand meine Frage sofort.
Ich redete mit ihm altgriechisch.
 Jetzt machte sich mein Fleiß im Gymnasium bezahlt. Jetzt nutzt mir mein früheres büffeln dieser alten Sprache.
Ein Seefahrer, das war er. Seine Kleidung, sein Gang, bestätigte meine Vermutung.
Jedes Wort des Fremden brannte sich in mein Gedächtnis. Selbst jetzt bin ich in der glücklichen Lage, natürlich in unserer Sprache, wortgetreu alles hier zu wiederholen.
Sie segeln mit dem Westwind an den Säulen des Herakles vorbei, drei volle Tage und Nächte immer die Sterne des Orion, dem Sohn des Poseidons vor sich, um dann 12 Stunden, bei gutem Wind, dem Stern Prokyon zu folgen.
 Eine immerwährende Nebelwand wird sich vor dein Schiff stellen.
 Ohne Furcht vor der Macht der Meeresgötter durchquerst du diese Wand.
 Fahre nie bei Nacht, denn nur am Tage kann dich hier auf dem Meer Baal schützen.
Vertraue der starken Meeresströmung.
Es sind die Götter des Meeres, die bei Wohlwollen und Gnade, dein Schiff jetzt steuern werden.
 Fremder vergesse nicht ihnen zu danken.
Eine angemessene Opfergabe hier in dem Tempel der Orake der Göttin des Schicksals und der Zeit stimmt die Göttin wohlgefällig.  
Bete für eine gute Heimreise. Erbitte die Führsprache der tausend Siruten, den unsterblichen, blinden Götterdienern, von Orake.
Ohne ein weiteres Wort mit mir zu wechseln, ging der Seemann seines Weges.
Mich durchströmte ein Glücksgefühl. Nun kannte ich die Reiseroute nach Atlantis. Mit dem GPS, meinem Laptop und einem seetüchtigen Schiff, konnte ich später  immer wieder hierher reisen.
 Das war meine feste Überzeugung.
Ich wusste genug, um die Heimreise anzutreten.
Ganz sicher finde ich hier ein Schiff, das mich direkt zurück in meine Heimat bringt.
Mit dem Kapitän des Schiffes werde ich mich einigen, was den Reisepreis betrifft.
 Moment einmal, habe ich genug Geld bei mir?
 Wo steckte meine Visakarte? Normalerweise ist sie in meiner Brieftasche. Die wiederum trage ich, geschützt vor Dieben, unter meinem Hemd. Dort fühlte ich sie sofort.
 Bestimmt nehmen die Menschen hier Dollar. Oder noch besser Traveler-Schecks.
Eine Handels- und Seefahrerstadt kennt die Währungen der ganzen Welt.
 Zur Not besuche ich eine Wechselstube, oder besser die Zweigstelle der Deutschen Bank.
Warum sollte ich mir hier Sorgen machen? Eigentlich ist es zu früh, abzureisen.
 Was kann mir passieren? Mit meinem Kommen ist keine böse Absicht verbunden.
Als ein harmloser Tourist besuche ich die Stadt.
Erst jetzt bemerkte ich, dass zwei Männer mir folgten. Sie hielten einen gebührenden Abstand.
 Ihre Bekleidung bestand aus einem ledernen Lendenschurz.
Seltsam, im Gürtel trugen sie ein Kurzschwert. Bekam ich hier eine Schutzeskorte?
 Meine innere Frage sollte sehr  schnell eine unangenehme Antwort finden. Mit zwei schnellen, weiten Schritten standen sie direkt vor mir und zwangen mich zu einem Halt.
Sie deuteten an, ich solle ihnen folgen. Sie nahmen mich in ihre Mitte.
Es blieb mir keine andere Wahl, ich musste ihnen folgen.
Über 222 Stufen aus weißem Marmor erreichten wir ein Gebäude. Ja ich zählte die Stufen, was sollte ich sonst machen? Fortlaufen, wohin denn?
Mächtige Säulen trugen ein goldenes Dach. Türen sah ich keine. Das überdachte Etwas erinnerte mich an eine Pagode wie ich sie von Asien kenne.
Von einem erhöhten, thronähnlichen Sitz schaute eine furchtbare Gestalt auf mich herab. Das musste Wutana, der Vatergott der Insulaner sein. Auf den Stufen zum Altar, saßen halbnackte Männer. Priester des Tempels.
 Diese Figur aus schwarzem Marmor beteten die Bewohner von Atlantis an.
Eine leichte Handbewegung der zwei Wächter, zeigte mir, ich solle mich verbeugen, um vor der Gottgestalt damit meine Stirn den kalten Boden berühre. Ich lehnte ab. Meine Standhaftigkeit, diese Weigerung ließ die Wärter und die Priester erbleichen.
Als braver Christenmensch und im neuen Jahrtausend lebend, zudem demokratisch liberal erzogen, wiederstrebte es mir, mich vor einem Stein zu verbeugen.
Aus den großen Augen der Götzenfigur  leuchteten helle Blitze. Der Fußboden des Tempels begann ganz leicht zu beben. Über die in den Untergrund führenden Treppen erschienen Tempelwärter.  Ihr Kopfe steckten in übergroßen, scheußlichen Masken aus Gold. Sie sollten Furcht und Schrecken einflößen.
Furcht verspürte ich keine. War der Garten Eden doch nicht so friedlich, wie ich es erwartet hatte und glauben wollte? Herrschte hier ein Terrorregime einer despotischen Priesterschaft?  Auf diese Fragen werde ich niemals eine befriedigende Auskunft erhalten.
Plötzlich hörte ich ein lautes, dumpfes Hupen, wie ich es von Schiffen her kenne.  
Das Hupen der türkischen Fähre, die etwas hundert Meter von mir entfernt, draußen im Meer vorbei fuhr, brachte mich in die Wirklichkeit zurück.
In meine wahre Welt. Hatte ich nur geträumt? Hatte mich meine Phantasie genarrt? Gab es vielleicht doch eine Zeitreise. Ein Zeitloch, ohne festen Raum und Zeit? Physikalisch gar nicht so unmöglich.
Einstein und seine Relativitätstheorie.. Daran dachte ich sofort.
Was ist Zeit? Das was die Uhren messen? Nur was war vor der ersten Uhr?
Welche Zeit gab es damals?
Ich beendete dieses theoretische Denken und sagte mir, du hast geträumt. Einen schönen, herrlichen Traum, aber die Wirklichkeit ist, du liegst hier am Strand in der Türkei und die Sonne hat dich schläfrig gemacht.
Immer und immer wieder frage ich mich, war es Traum, oder Wirklichkeit einer anderen Dimension
Epilog:
Noch eine kleine Geschichte die letztlich meine Sicht der Dinge zeigt .
Nach der Wende, im Herbst 1990 besuchte ich die frühere Bauernstelle meiner Großeltern in Mecklenburg. Sie liegt dicht an der Grenze zur BRD in Schleswig Holstein. Die DDR Grenzer schleiften Ende der 50er Jahre den Bauernhof, sowie  das ganze Dorf, d.h. alle Gebäude rissen sie  bis auf die Grundmauern nieder. Einige Jahre davor flüchteten meine Eltern mit mir in den Westen.
Ich parkte direkt auf dem früheren Grundstück des Bauernhofes. Wenige Mauersteine schauten aus der Grasnarbe. Vor mir der frühere Grenzstreifen. Die Stille der Natur umgab mich. Ich holte einen Klappspaten aus dem Auto. Genau auf dem Grundstück des früheren Wohnhauses begann ich  zu graben. Nach einigen Minuten spürte ich einen Widerstand. Ich bückte mich, nach  einem weißen Gegenstand im Boden. Ein weißer Nachttopf lag vor mir. Das Nachtgeschirr  meiner Großeltern. Davon bin ich fest überzeugt. Die weiße Emaille hat ihn konserviert.
Heute steht dieser Topf auf der Terrasse meines Hauses. Jedes Jahr pflanze ich in ihm eine Kartoffel. Die Erde hole ich Jahr für Jahr vom Grundstück meiner Vorfahren.
 Im letzten Jahr charterte ich ein seetüchtiges Boot und lies mich an den geheimen Ort im Meer fahren. Einen Korb Rosen übergab ich der Wasseroberfläche. Ein letzter Gruß an Atlantis.
Die Besatzung des Skippers dachte, ich gedenke dort eines früheren Schiffsunglücks. Ich ließ sie in diesem Glauben.
Die Koordinaten dieser Reise werde ich in mein Grab mitnehmen. Kein Mensch soll die ewige Ruhe von Atlantis stören.
Meine zweite Frage, auf die ich wohl nie eine Antwort finden werde ist: Was wäre mit mir im Tempel passiert, wenn mich nicht das Geräusch der Fähre geweckt hätte?  
Ich bedanke mich für Ihr Zuhören und wünsche allen Anwesenden ein gutes Heimkommen. Danke!
Lübeck, 25.07.2011 geschrieben von Helmut Eckert  

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